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Rezension: Alltagsfluchten- Geschichten und Atmosphären aus der Gegenwart- #Raimund_Schöll- Wiesenburg

Der Autor dieses Buches, das wunderbare Lyrik- und Prosatexte enthält, ist der gebürtige Münchner Raimund Schöll. Als Soziologe coacht er Führungskräfte, begleitet Organisationen in Veränderungsprozessen und berät Einzelpersonen und Paare in schwierigen Situationen. Dabei ist ihm Schreiben zu seiner zweiten Passion geworden. 

Neugierig auf die Texte hat mich das Cover gemacht. Es erinnert an Werke von Réne Magritte aber auch an Arbeiten von Salvadore Dali. Wer ein solches Cover gestalten lässt, möchte damit vermutlich eine Botschaft vermitteln. Auf diese Botschaft war ich gespannt.

Anstelle eines Vorwortes hat man Gelegenheit, Überlegungen zu Sisyphos von Albert Camus zu lesen, der diesen scheinbar absurd handelnden Menschen als glücklich bezeichnet hat und auch begründet, worin die verborgende Freude dieses Mannes bestand. 

Die rund 140 Texte Raimund Schölls sind in zwei Abschnitte untergliedert. Diese lauten: 

I. Rätselhafthaftes & Schicksalhaftes 

II. Zauberhaftes & Bedenkenswertes 

und beginnen jeweils mit vier Sentenzen. Die Verfasser dieser Zitate sind Ludwig Wittgenstein, Paul Valéry, Eugène Ionesco, Matthias Ohler, Albert Camus, Max Frisch, André Breton und Bruno Latour. 

Diese Personen, aber auch deren Gedanken zeugen vom geistigen Anspruch Raimund Schölls. Zu erfahren, ob er diesem mit seinen Texten gerecht wird, schafft weitere Neugierde und das erste Durchblättern des Buches schenkt dann das Aha-Erlebnis, weil man beim Lesen nicht chronologisch  vorgehen muss, sondern selbst die Reihenfolge entscheiden kann. Das beglückt natürlich. 

Lesen ist immer auch eine Zeitfrage. Worauf lässt man sich an stressigen Tagen ein? Auf längere oder kürzere Texte? Im Buch wird beides geboten und es werden auch Stimmungslagen berücksichtigt. Das Eintauchen in Lyrik bedarf anderer Gefühlsregungen als das Beschäftigen mit Prosa. Kurzum: Man fühlt sich als Leser verstanden und empfindet von daher Freude und Dankbarkeit, noch bevor man sich auf die Texte einlässt. 

Weil ich zunächst wissen wollte, ob der Autor wirklichen Sinn für Poesie hat, las ich zunächst dessen Gedichte und war mehr als nur angetan von der Qualität der Verse. Damit Sie eine Vorstellung davon erhalten, möchte ich eines der Gedichte hier wiedergeben. 

Ein Nachmittag auf Formentera 

Gischtgekrönt spülen 
die grünen Meereswellen 
Spuren aus dem Sand 
Eine Armada 
Grauer stoischer Wolken 
Begleitet ihr Lied 
Das ist der Süden- 
Launisch, divenhaft, verspielt
Feiert er sich selbst. 

Dies ist eine wahrlich gelungene lyrische Miniatur, ein Hohelied auf den Süden, das man immer wieder gerne liest, weil der Minimalismus in Gedichtform die Essenz dessen offenbart, was den Süden ausmacht.

Raimund Schöll nutzt Stilrichtungen der Kunst stilistisch gekonnt für seine Texte. Dabei ist er im Minimalismus ebenso zu Hause wie im Surrealismus und im Realismus. 

Realismus findet sich beispielsweise in der Sentenz, die den Titel - Sie Du Sie- trägt: 

"Für manche bist Du selbst dann ein Sie, wenn du ein Du verspürst. Naturgemäß gilt dies auch umgekehrt."

Doch kommen wir nun zu Raimund Schölls Geschichten, die sich zwischen Minimalistischem, Surrealem und Realem bewegend, als Lesestoff für gedankliche Alltagsfluchten bestens eignen. Im Grunde sollte man jeden Tag nur einen dieser Texte lesen und mit diesem dann ausgiebig gedanklich spazieren gehen. Das nennt man dann wohl Meditation.

Wer schon einmal in Prag war und dazu noch Kafka mag, sollte vielleicht mit dem Text "Prag" beginnen. Diese Geschichte ist sehr dicht geschrieben, dazu minimalistisch und surreal zugleich angelegt. Der Autor skizziert mit einigen Sätzen seine spontanen Eindrücke. Am Anfang fällt noch nichts Surreales oder irgendwie Absurdes ins Auge, obschon es Schöll wenig später dem Leser vor die Nase hält. Zuvor aber liest man folgende Sätze: "Plötzlich ein Gedanke: Lebte nicht Franz Kafka in Prag? Und- kafkaesk. Ach ja, das war es doch!" Raimund Schöll gelingt es in der Folge, wiederum mit wenigen Federstrichen,  die Stadt trotz der Geräuschkulisse, durch die Erwähnung des sensiblen Poeten dem Jetzt so zu entfremden, dass sie am Ende durch die Touristen mit ihren digitalen Klickautomaten kafkaesk erscheint. Das hat der Autor sehr hintersinnig entwickelt.

Wenige Seiten danach hat man die Gelegenheit, einen Essay über die "Sehnsucht" zu lesen. Dieser Essay hat mir besonders gut gefallen. Für den Autor ist Sehnsucht möglicherweise das unbeschreiblichste Gefühl, das wir Menschen entwickeln. So reflektiert er nicht grundlos, wonach wir sehnsüchtig sein können. Interessanterweise benennt er zum Schluss seiner Aufzählung die Sehnsucht nach nicht alltäglichen Gedanken. Eine solche Sehnsucht kennen vermutlich vorrangig Kreative. Es sei die Sehnsucht, die uns zu einem anderen Menschen mache, vielleicht weil sie letztlich Andacht oder auch Meditation sei, so Schöll. Doch ich möchte nicht zu viel verraten. Dieser Text könnte auch von Plutarch stammen, einem Plutarch allerdings mit der Poesie eines Franzosen, denn der Essay ist sehr philosophisch angelegt,  wurde jedoch mit der Leichtfüßigkeit eines Rokoko- Intellektuellen verfasst. 

Dann ist da die Geschichte, deren Titel "Aus" heißt. Es ist eine Geschichte, die sich als verfremdete, traurige Liebesgeschichte entpuppt, ganz beiläufig erzählt. Beeindruckend. 

Die Stoiker scheinen den Verfasser offenbar zu amüsieren, aufgrund ihrer mangelnden Lebendigkeit. Dies macht seine Geschichte "Der Stoiker" deutlich. Lichtgestalten sind sie für Schöll jedenfalls nicht gerade, das entnimmt man übrigens auch meinem ausgewählten Gedicht. Dort spricht der Dichter von "grauen, stoischen Wolken".

Leider ist es unmöglich im Rahmen der Rezension auf all die wunderbaren Texte einzugehen. Von daher freue ich mich schon jetzt auf das Interview mit dem Raimund Schöll.

Sehr angetan bin ich  von der Geschichte "Morgengezwitscher", in der der Autor verdeutlicht, dass sich letztlich alles, wenn auch vielleicht abgewandelt, wiederholt. Sisyphos lässt grüßen.

Eine der Geschichten trägt den Namen "Menschliche Größe". Dieser Essay korrespondiert mit den das Buch einleitenden Überlegungen von Albert Camus. Bezugnehmend auf Sisyphos fragt Raimund Schöll nach der menschlichen Größe, konkret, worin diese eigentlich besteht. Dieser Text ist meines Erachtens der Schlüsseltext zum Buch. Hier reflektiert und bejaht Schöll die Meinung Camus, dass man sich Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen möge und begründet dies auch. Ich zitiere nachstehend aus dem Text: "Den Stein zu rollen, ihn immer wieder neu ins Rollen zu bringen, ist das Leben und etwas anderes bleibt uns nicht übrig. Menschliche Größe könnte also darin bestehen, kompromisslos ja zum Leben und seinen täglichen Herausforderungen zu sagen und das Rollen des Steins als tägliche Passion zu verstehen. Dem Absurden, Tragischen und Grotesken, das dabei täglich am Wegesrand lauert, ins Auge zu sehen. Und dass dabei auch Zauberhaftes geschieht, wer mag das ernsthaft leugnen?!"

Der Verlag fasst zusammen "Eine kaleidoskopische Reise durch die Lebensgefühle und Atmosphären unserer Zeit". Genau darum geht es. Raimund Schöll zeigt das Absurde, Tragische, Groteske aber auch das Zauberhafte, das täglich geschieht und verfremdet es zumeist ein wenig, so dass es fast surreal daherkommt und man  als Leser nicht selten auch ein bisschen träumen kann. 

Dabei ist Lebenskunst für den Autor: "Wenn ein Tag schön war, dafür zu sorgen, dass der darauf folgende Tag auch schön wird. Es jedenfalls zu versuchen." Das klingt zuversichtlich und alles andere als melancholisch. Das klingt nach "Carpe diem". Das klingt nach ungebrochener Lebenslust.

Bei all den Absurditäten, die uns täglich begegnen, ein solches Motto für sich und andere zu entwickeln, lässt auf einen Menschen schließen, der in sich ruht und noch immer Freude empfinden kann, ganz so wie Camus Sisyphus, für den sein Stein zu seinem Lebenselixier wurde.  

Sehr empfehlenswert 

Helga König

Überall im Handel erhältlich
Onlinebestellung Wiesenburg oder Amazon
Alltagsfluchten: Geschichten und Atmosphären aus der Gegenwart

Rezension: Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt- Bodo Kirchhoff- Frankfurter Verlagsanstalt

Der Autor dieses Buches ist der Schriftsteller Bodo Kirchhoff. Er wurde im Herbst 2016 für seine Novelle "Widerfahrnis" mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

Der Ich-Erzähler seines vorliegenden Werks ist wie er ein Schriftsteller, allerdings von seinem Wesen her intellektueller Bedenkenträger. Als solcher verfasst er eine ausführliche Antwort auf eine kostenfreie Einladung zu einer Kreuzfahrt.

Das Angebot der Reederei besteht darin, zwei Wochen durch die Karibik zu schippern, auf dem Schiff eine Außenkabine mit Balkon zu bewohnen und zwar mit freier Verpflegung als auch mit freien Getränken an jeder Bar auf dem Dampfer. Diese und diverse andere interessante Vergünstigungen werden ihm unter der Bedingung gewährt, mehrere Lesungen aus seinen Werken innerhalb der 14 Tage an Bord für die zahlenden Gäste zu realisieren.

Wohlüberlegt  antwortet der Eingeladene der Agentin der Reederei -die Dame heißt Frau Faber- Eschenbach- und irritiert den Leser dadurch, dass er der Empfängerin des Schreibens einen Text übermittelt, dem es an einem heutzutage eigentlich üblichen Füllhorn von Absätzen mangelt. Der Schreiber zwingt auf diese Weise die Empfängerin seiner Zeilen, sich sehr konzentriert auf seine Gedanken einzulassen, um ihr eindringlich zu vermitteln, dass er es sich nicht leicht macht, mit seinen Überlegungen und der damit verbundenen Entscheidung.

Er sei kein Freund von Absätzen, scheibt er seinen Stil erläuternd. Seine Seiten seien Festungen. Indirekt droht er Faber-Eschenbach durch seine dicht geschriebene Replik bei Zusage, ohne größere Atempausen dem Bordpublikum aus seinen Büchern vorzulesen und begründet  alsdann sein Vorhaben gut nachvollziehbar. Seine Romane scheinen für die vergnügungssüchtige Kreuzfahrtpassagiere wenig geeignet, wenn man ihm glauben darf. Doch offenbar geht es bei seiner Anwesenheit mehr um seinen Namen und weniger um seine Texte.

Von den 4999 zahlenden Gästen auf dem Schiff werden nur wenige zu seinen Lesungen kommen, vermutet der nicht gerade optimistische Autor und äußert dies auch gegenüber der Reederei-Agentin. Er macht sich und ihr keine Illusionen und überdenkt voller Ironie die Verschiedenheit der zahlenden Gäste und seiner eigenen Person, dessen kulturelle Vorlieben nicht zu den von ihm vermuteten Präferenzen der restlichen Passagiere passen. Ob er Vorurteilen unterliegt, hinterfragt er  allerdings nicht.

Ein Schriftsteller lebt in seiner eigenen Welt, die offenbar nur schwer zu vereinbaren ist  mit jener der fiktiven Schiffsbesucher und deren fiktiven Affinitäten. Stets aufs Neue nimmt der Eingeladene sich und die Leute, die ihm auf dem Schiff möglicherweise begegnen könnten, auf die Schippe, so auch den pensionierten Studienrat, der ihm sachliche Fehler nachweisen möchte, "den falschen Konjunktiv, die irrtümliche Ortsangabe, das vergessene Wort", oder  auch  jene, die nur zu Lesungen kommen, um eigene Ambitionen zur verfolgen, nicht zuletzt auch die, die mit ihm eine Affäre beginnen möchten. Hier räumt er ein, dass eine geistige Affäre verheerender sein könne als eine gewöhnliche. Er scheint zu wissen, wovon er schreibt.

Seite für Seite nörgelt sich der Antwortgeber subtil ironisch durchs Buch, nimmt sich dabei selbst allerdings nicht aus, wenn es um seine wunden Punkte geht. 

Eine Publikumsbeschimpfung ist es allerdings auf keinen Fall, sondern wohl eher eine Botschaft, dass es oft Welten sind, die uns von anderen trennen und letztlich nur die Liebe, sei sie auch noch so fiktiv,  Brücken  zu bauen vermag. 

Warum ich bei dem schreibenden Gastkünstler im Buch an den verschreckten Schriftsteller  aus dem Film "Rossini – oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief" spontan denken musste, kann ich nicht so genau sagen, aber vielleicht muss ich das auch nicht...


Sehr empfehlenswert. 

Helga König

Überall im Fachbuchhandel erhältlich

Onlinebestellung: Frankfurter Verlagsanstalt oder  Amazon: Betreff: Einladung zu einer Kreuzfahrt

Rezension: Die Königin von Ägypten in Berlin- Imre Török- Epik

"Chagall, spiel die Geige des Himmels"- "Die Seele ist immer Jetzt." (Imre Török)

Imre Török, der Autor dieses Romans ist Mitglied im P.E.N.-Zentrum Deutschland, im Verband deutscher Schriftsteller (VS) und im ungarischen Schriftstellerverband. 

Seine Protagonistin im vorliegenden Buch ist  Djavidan Hanum,  die gebürtige Gräfin May Török von Szendrö (1877-1968). Sie ist eine Verwandte von ihm, die einige Jahre in Berlin lebte und dort einst ihr Buch "Harem" veröffentlicht hat.  

Die Pianistin und spätere Schriftstellerin Djavidan war mit dem Vizekönig von Ägypten verheiratet. Diese Ehe machte es möglich, dass sie später die "Häuser der Glückseligkeit" durch ein Buch entschleiern konnte. Nach ihrer Scheidung lebte die Aristokratin zunächst in Wien und danach u.a. in Berlin, wo sie auf den ungarischen Diplomaten Andreas trifft, der sie auf ihrer Mission begleitet. Später dann begegnet ihr die Balletttänzerin und Sängerin Sophie, die einst in Weimar am Staatstheater engagiert war. Bei den zuletzt genannten Romanfiguren handelt sich um die Eltern Imre Töröks, dessen Roman in Berlin, Istanbul, in Ägypten, in Weimar und im KZ- Buchenwald spielt und teilweise sehr surreal angelegt ist. 

Die Romanhandlung spielt in den Jahren 1942/43 und setzt sich kritisch mit dem damaligen System in  Deutschland auseinander. Der Romancier bringt es auf den Punkt, wenn er in den Text einfließen lässt: "Die Hitlerianer sind nicht nur Rassenhasser. Sind auch Frauenhasser."(39),denn die Frauen waren damals "zum Jubeln verdammte Soldatengebärmütter."(39). 

Das Schöne war für die schwarze Energie, die den Totenkopfkriegern innewohnte, niemals erreichbar, weil die "Schönheit des Gewissens" ihnen unzugänglich war. 

Djavidan bringt Andreas im Laufe des Romans, in welchem Reales und Irreales sonderbar verschwimmt, alltägyptische Magie, auch allägyptisches philosophisches Schönheitsdenken nahe und reflektiert die Abhängigkeit, die zwischen Gutem und Bösem besteht. Dabei sollte man wissen, dass Schönheit in der Vorstellung der Ägypter ein Idealzustand war. Dieser bezog sich nicht nur auf die Äußerlichkeit, sondern auch auf die innere Vollkommenheit des Menschen. So machten speziell Tugendhaftigkeit, gutes Benehmen und moralische Perfektion den Menschen schön und beliebt bei den Göttern. Das Prinzip der "Schönheit" war keineswegs auf das diesseitige Leben begrenzt, sondern galt auch darüber hinaus. *

An Kafkas berühmtes Zitat erinnernd, schreibt Török "Das gefrorene Meer des Krieges und die eiskalten Kriegstreiber waren an allem schuld, am Elend der Millionen, am Wahnsinn an allen Fronten, am Leiden in bestialischen Lagern, in zerbombten Städten."

Die ungarische Grafenfamilie Török beobachtet das Treiben des Bösen u.a. am Beispiel der KZ-Wärterin Ilse Koch und des Guten am Beispiel der Widerstandskämpferin Sophie Scholl. 

"Die Seele ist immer Jetzt", so liest man. Deshalb auch können Djavidan und die allägyptische Pharaonin Nofretete miteinander kommunizieren und zwar auf einer Meta- Ebene, dort wo man auch mit Bäumen sprechen kann und von diesen verstanden wird, dort wo Traum und Alptraum nicht als Gegensatz begriffen werden, dort wo die Gedanken den Empfänger erreichen, ohne dass technische Hilfsmittel notwendig sind.

Es gilt die Dualität zu begreifen, lehrt uns dieser Roman. Todesboten und Lichtbringer weisen den Weg dorthin, wo die Menschheit sich in Gänze mit der Göttlichkeit des Alls vereinigt. In allen Jahrtausenden begegnen uns Lüge, Hass und Gewalt, aber auch Mitgefühl und Liebe. Nichts hat sich geändert seit dem Altertum, auch die NS-Zeit, in ihrer unglaublichen Perfidie war letztlich ein Wegweiser hin zu einer Welt, die der Dualität endlich abschwört und sich der wahren Aufgaben des Menschseins zuwendet: Der Schaffung einer Welt, die lichtdurchflutet, keine Dunkelheit mehr kennt.

"Chagall, spiel die Geige des Himmels" - " Die Seele ist immer Jetzt", so die Aufforderung und zentrale Botschaft Imre Töröks, die für aufmerksame Leser wegweisend sind.

Sehr empfehlenswert.

 Helga König

*vgl: Archäologie

Überall im Fachhandel erhältlich.

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AMAZON: Die Königin von Ägypten in Berlin: Roman (Epik)

Rezension: Nach der Flucht- Ilija Trojanow- S. Fischer

Ilija Trojanow, der Autor dieses bemerkenswerten Buches wurde in Sophia geboren und floh als Kind mit seiner Familie 1971 nach Deutschland. Dort erhielten sie politisches Asyl. Ein Jahr später gingen sie nach Kenia und wohnten danach in Paris. Trojanow studierte Jura und Ethnologie in München, wurde Verlagsgründer, zog 1998 nach Bombay, 2003 nach Kapstadt und lebt heute, wenn er nicht reist, in Wien. Als Autor hat er viele Bestseller verfasst und zahlreiche Preise erhalten. 

Im vorliegenden Buch, das eine Aneinanderreihung von teilweise sehr poetischen Eindrücken und essayistischen Reflektionen eines Flüchtlings ist, macht er begreifbar, was einen Menschen, der geflohen ist, von anderen ein Leben lang unterscheidet. Ganz zu Anfang schreibt Trojanow zwei Schlüsselsätze "Der Flüchtling ist meist Objekt" und "Der Geflüchtete ist eine eigene Kategorie Mensch". Was es mit dem Inhalt dieser Sentenzen auf sich hat, wird in seinen Texten dann klar.

Als Kind von Vertriebenen kann ich diese Gedanken bestätigen und auch den ebenfalls im "Vorab" zu lesenden Satz "Doch die Flucht wirkt fort, ein Leben lang. Unabhängig von den jeweiligen individuellen Prägungen, von Schuld, Bewusstsein, Absicht, Sehnsucht."

Der Autor hat sein Buch in zwei Teile untergliedert. Im ersten Teil schreibt er "Von den Verstörungen" und stellt hier nicht zuletzt Überlegungen zur Sprache an. Die Scham, in der fremden Sprache nach der Flucht noch nicht zuhause zu sein und als Kind noch nicht zu wissen, dass Sprache Ermächtigung ist, führt bei vielen Flüchtlingskindern dazu, in ihr zu brillieren, - möglicherweise unterbewusst primär, um sich selbst verteidigen zu können -. 

Die Fluchterfahrung lehrt den Wert von Sprachkenntnissen zu schätzen."In fernen Ländern schneidet manch ein Geflüchteter dem eigenen Namen einige Konsonanten ab." Das geschieht nicht von Ungefähr.

Es ist unmöglich all die Eindrücke und Reflektionen im Buch in wenigen Sätzen zu skizzieren. Bestätigen kann ich u. a. auch aufgrund unzähliger Beobachtungen den Satz: "Die Irrungen und Wirrungen eines Menschen, der sich aussondert, selbst wenn er von niemandem ausgeschlossen wird, weil er eine unbändige Sehnsucht empfindet, einer unter vielen zu sein" (S.21). 

"Menschen fliehen aus Angst, verlieren alles, ihr Leben ist gefährdet, doch fühlen sich jene, wo der Flüchtling ankommt, nicht selten von ihm bedroht." Ist das nicht paradox? 

Trojanow macht begreifbar, dass der Flüchtling auf der Flucht Gemeinschaft kennenlernt, er später aber ein einsames Individuum sei. Auch das hängt mit der Sprache zusammen, weil selbst die perfekt erlernte Fremdsprache nicht die Muttersprache sei. Von Seite zu Seite wird immer ersichtlicher, wie unmöglich es für den Geflüchteten ist, jemals wieder wirklich sesshaft zu werden. Der Bewegungsdrang bleibt für immer, man sieht es an Trojanows Lebenslauf. 

Dann erfährt man von dem Verlust der Autorität des Vaters von Flüchtlingskindern. Auch dieses Phänomen hängt mit der fremden Sprache zusammen, die Kinder rascher lernen. 

Trojanow reflektiert zudem die Nostalgie von Geflüchteten, die in allen Familien immer wieder sonderbare Blüten treibt. Dem Autor erscheint sie mittlerweile als "höchste Form der Ignoranz", "als ichgefällige Empfindung". Genau so ist es.

Im zweiten Teil schreibt der Weltbürger "Von den Errettungen" und beginnt seine Reflektionen hier mit dem Satz "Heimatlosigkeit muss nicht falsch sein". Hier auch schreibt er, dass der Geflüchtete Bewegung verkörpere und kulturelle Entfaltung Bewegung ohne Geländer sei. Wie wichtig Vielfalt ist und weshalb man Entfremdung trainieren kann, ist auch nicht uninteressant zu erfahren und man nickt als Kosmopolit  natürlich eifrig bei Sätzen wie: "Die Vielfalt der Sprachen ist an sich schon Poesie" oder "Der Akzent ist die Handschrift der Zunge" oder auch "Die Gefahr ist nicht, dass wir überfremdet werden, sondern dass uns die Fremde ausgeht."

Worin die Vorteile eines Flüchtlings liegen? Es ist wohl die Sprachvielfalt und die kulturelle Bewegungsfreiheit, die man durch die Flucht erwirbt und die auch Grenzen im Kopf leichter überwinden lässt. Vielleicht  besteht darin das Tröstende des Verlusts.....


Ein großartiges Buch, das ich sehr gerne empfehle 

Helga König


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Rezension: Unsere Seelen bei Nacht- Kent Haruf

Der Autor dieses sehr berührenden Romans ist der 2014 verstorbene amerikanische Schriftsteller Kent Haruf. "Unsere Seelen bei Nacht" ist sein letztes Werk. Verfilmt wurde es mit Jane Fonda und Robert Redford in den Hauptrollen. 

Bei diesem lebensweisen Roman handelt es sich um eine Liebesgeschichte über die zweite Chance und die Freiheit des Alters. 

Die Protagonisten- Addie Moore und Louis Waters, sind beide um die 70 Jahre alt, beide sind verwitwet und leben seit vielen Jahren in der fiktiven Kleinstadt Holt und zwar nur ein paar Häuser voneinander entfernt. Beide haben erwachsene Kinder, die in anderen Städten wohnen. 

Beide leben zu Beginn der Romanhandlung nicht mehr auf Zukunft hoffend, sehr zurückgezogen. Obschon Addie und Louis seit langer Zeit gewissermaßen Nachbarn sind, wissen sie nur wenig voneinander. Da die immer noch aparte Addie sich sehr einsam fühlt und den pensionierten Lehrer mag, klingelt sie eines Abends bei ihm, erklärt ihm ihre innere Unruhe, besonders nachts und fragt ihn mutig, ob sie bei ihm schlafen könne. Ihre Bitte ist nicht sexuell motiviert. Sie möchte nur im Dunkeln neben ihm legen, möchte, dass sie miteinander reden und sich besser kennen lernen. 

Louis ist zunächst ein wenig irritiert, willigt dann aber in das Experiment ein. Dabei lassen die beiden sich nicht vom Kleinstadtgerede beirren, durch das ihre unakzeptable Beziehung alsbald thematisiert wird. 

Addie und Louis sind seelenverwandt, verstehen einander blendet, erzählen sich ihr gelebtes Leben und verlieben sich auf diese Weise immer mehr ineinander. 

Als ihre Kinder von der Altersliebe erfahren, wird ihre Beziehung auf die Probe gestellt… 

Dieser Roman erweist sich als eine schöne und dabei unsentimentale Liebesgeschichte, die den Lesern verdeutlicht, dass man sich auch im fortgeschrittenen Alter noch unsterblich verlieben kann aber auch, dass Liebende immer einen Weg finden, um sich  zumindest geistig und seelisch nahe sein zu können.  Eine erfreuliche Botschaft. 


Sehr empfehlenswert 

Helga König

Überall im Handel erhältlich

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Rezension: Sofia- Erica Brühlmann- Jecklin- Zytglogge

Die Autorin dieses 10 CD umfassenden Hörbuchs mit dem Titel "Sofia- eine Frau aus dem Prättigau“ ist die Graubündnerin Erica Brühlmann-Jecklin. Ihr Roman erschien erstmals 2009 als gebundenes Buch. 

Der CD-Box ist eine Code-Karte beigefügt. Damit hat man die Möglichkeit, den gesamten Roman auch als MP3- Datei herunterzuladen. Die einzelnen CDs sind in wieder verschließbare Hüllen verpackt, in die man die CDs nach dem Hören erneut hineinschieben kann und sie auf diese Weise vor Staub und Kratzer zu schützen vermag. Eine lobenswerte Maßnahme.

Der Schauspieler Peter Kner liest mit angenehmer Stimme, einfühlsam den beeindruckenden Text, der sowohl inhaltlich als auch stilistisch mit feinen Linien das Leben von zumeist nicht wohlhabenden Selbstständigen und ihren Kindern nachzeichnet, deren Wurzeln im Prättigau in der Schweiz zu finden sind. 

Mit einem "goldenen Löffel" im Mund wurde keiner der Hauptfiguren geboren, auch die Protagonistin Sofia nicht. 

Das Prättigau, so entnimmt man dem Hörbuch, ist ein Tal des Flusses Landquart im Schweizer Kanton Graubünden und Teil der Region Prättigau/Davos. Die Familiengeschichte beginnt im Jahre 1897 mit der ersten fokussierten Generation. Hier hört man zunächst wie  Karl, ein junger Maler und Karolina, ein hübsches Zimmermädchen sich kennenlernen. Die beiden sind die zukünftigen Eltern von Sofia. Volkslieder ersetzen beim Einander-näher-kommen eigene Worte. Volkslieder sind das Kommunikationsinstrument, das die beiden schließlich zueinander führt.  

Der Kutscher Johannes und die Köchin Maria lernen sich 1899 kennen. Es sind die Eltern von Peter, dem späteren Ehemann von Sofia. Der Vater von Johannes ist ein armer Bergbauer. Johannes träumt von einem weniger beschwerlichen Leben als es sein Vater hat, schafft es aber nicht, seinen Lebenstraum umzusetzen und übernimmt dessen Last nach dessen frühem Tod gemeinsam mit Maria, während Karl und Karolina ihren eigenen Weg gehen. 

Karl eröffnet ein Malergeschäft, zudem betreiben die beiden alsbald ein Wirtshaus, dem eine Pension angeschlossen ist. Beide Paare werden Eltern einer großen Kinderschar, wie das in jenen Zeiten in ganz Europa nicht nur in ländlichen Gebieten üblich war. 1913 kommt das "Sommerkind" Sofia zur Welt, dessen Leben mehr als 90 Jahre andauern sollte. 

Die Eltern nennen dieses Kind Sofia, weil der Name "Weisheit" bedeutet und Karl glaubt, dass dieser Name das Mädchen beschützen wird. 

Karl, ein kluger, verantwortungsbewusster Mann, ist politisch interessiert, diskutiert gerne und stellt Betrachtungen über das Weltgeschehen an. Er weiß schon 1913, dass es Krieg geben wird und richtet sich darauf ein.  

Die Autorin hat offenbar viel recherchiert, um möglichst realistische Verhaltensmuster der Menschen im Prättigau nachzuzeichnen, die damals als nicht wohlhabende Selbstständige ihre Familien ernährten und mit harter Arbeit, jedoch geringen materiellen Mitteln ihren Kindern eine Zukunft verschaffen wollten. Die Genauigkeit vieler Details spricht für sich.

Man erfährt, welche Auswirkungen der 1. Weltkrieg in der neutralen Schweiz hatte und wie er von den Menschen im Prättigau wahrgenommen wurde aber auch, dass die Prättigauer den Krieg nicht wollten. Die Männer mussten an der "Grenze des Weltbrands" ihren Militärdienst und ihre Frauen die beschwerliche Arbeit in den kleinen Familienbetrieben, trotz ihrer vielen Kinder nun alleine verrichten. 

Gut ging es den Leuten in diesem ländlichen Gebiet der Schweiz nicht. Hier räumt die Autorin also mit einem Vorurteil im Hinblick auf die reiche Schweiz im letzten Jahrhundert auf. Reich waren weiß Gott nicht alle.

Brühlmann-Jecklin lässt in die spannende Erzählung immer wieder politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ereignisse einfließen, die sich auch auf diese entlegene Gegend in Graubünden auswirkten, trotz der Neutralität der Schweiz. 

Sehr gut sind Verhaltensmuster der Kinder untereinander geschildert. Gut auch ist erzählt, wie es schließlich dazu kommt, dass Sofia sich beim Tanzen in Peter, den Sohn des Bergbauern Johannes verliebt, den sie mit "Schmetterlingen im Bauch" Anfang der 1930er Jahre  heiraten wird. Vier Jahre später stirbt Karl, der Vater Sofias. 

Peter versteht Sofias ethische Einwände im Hinblick auf das, was im Nazi-Deutschland mit den Juden geschieht, nicht. Der Bergbauernsohn ist  kein nachdenklicher Mensch. Dass aus ihm später ein Trinker wird, der Sofias Leben zur Hölle macht, ahnt man zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht. 

Das Leben der beiden besteht wie bei fast allen anderen Erwachsenen im Buch aus Arbeit, um in erster Linie die vielen Kinder, die im Laufe der Ehe das Licht der Welt erblicken, zu ernähren. Je mehr Peter zum Alkoholiker mutiert, umso intensiver lastet die Verantwortung für die Familie auf Sofia. 

Erica Brühlmann- Jecklin verdeutlicht facettenreich die seelischen Nöte ihrer Protagonistin, die trotz ihrer Gottesgläubigkeit sich entschließt, eines ihrer Kinder abzutreiben, sich unsäglich für ihren immer mehr in die Trinkerei abrutschenden Ehemann schämt, der sie im Delirium verprügelt und mit seiner Gewalttätigkeit zur Gefahr nicht nur für sie, sondern auch für ihre Kinder wird. 

Sie braucht Ewigkeiten bis sie den Entschluss fasst zu gehen, um ihre sieben Kinder alleine groß zu ziehen. Dabei bahnt sie ihnen - sich selbst vergessend- einen Weg, der jedoch nicht immer dort endet, wo man ihn vermuten könnte… 

Der Roman ist an keiner Stelle sentimental. Die Authentizität der Gefühle beeindruckt. Nichts wird beschönigt, auch nicht die Leere, die sich bei Sofia einstellt, nachdem Peter durch sein Verhalten ihre Liebe zu ihm zerstört hat. 

Man wird Zeuge der Resilienz und des Mutes dieser Frau, die es schafft, ohne staatliche Hilfe ihren Kindern einen vernünftigen Start ins Leben zu ermöglichen und man wird auch Zeuge davon, wie Sofia am Ende ihres Lebens keineswegs verbittert, sondern immer weiser werdend, ihrem Namen alle Ehre erweist. Wollte ihr Vater sie mit dem Namen schützen, ist es ihr aufgrund ihrer Klugheit gelungen, sich vor Bitterkeit zu bewahren, weil sie grenzend ziehend, vergeben konnte.

Sofia hadert nur ein einziges Mal mit ihrem nicht einfachen Leben, dessen Inhalt eindeutig ihre Kinder sind. Die Kreativität, die sie entwickelt, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Nachkommen zu verdienen, ist bewundernswert. An ihrem Beispiel wird  begreifbar, wie notwendig die Emanzipation der Frau nicht nur in der Schweiz im letzten Jahrhundert war, wie wichtig auch Empfängnisverhütung ist, die überall auf der Welt nicht selten das Ende von Not und Elend bedeuten kann. 

Schon seit Langem hat mich kein Roman mehr so sehr bewegt wie dieser. "Sofia" in die Reihe üblicher Frauenromane einzureihen, hieße, ihn in seiner Tiefe nicht ausgelotet zu haben. Der Stoff eignet sich für einen niveauvollen Film mit sehr guten Darstellern und hat mich, was seinen Beginn anbelangt, an den Roman "Schlafes Bruder" denken lassen. 

Erica Brühmann-Jecklin bietet mit ihrem Hörbuch den Lesern anspruchsvolle Literatur, von der ich mir wünsche, dass sie Thema auch in der Talk-Show von #Markus_Lanz wird, der als Südtiroler den Inhalt der geschilderten Welt sicher besonders gut nachvollziehen und vor großem Publikum einfühlsam zur Sprache bringen kann. 

"Sofia, eine Frau aus dem Prättigau" hat es verdient, auf großer Bühne kommuniziert zu werden 

Maximal empfehlenswert. 

Helga König


Das Hörbuch  ist überall im  Fachhandel erhältlich

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Rezension: Alma- Dagmar Fohl- Gmeiner

Dagmar Fohl, die Verfasserin dieses sehr berührenden Romans hat Geschichte und Romanistik in Hamburg studiert und als Historikerin sowie Kulturmanagerin gearbeitet. Heute lebt Fohl als freie Autorin in der Hanse-Stadt. Dort schreibt sie Romane über Menschen in Grenzsituationen. 

Das Vorwort zu diesem Buch stammt von Ester Bejarano. Sie war einst Sängerin und Akkordeonistin des Mädchenorchesters von Ausschwitz und ist heute Vorsitzende des Auschwitz-Komitees. Bejarano beginnt ihr Vorwort mit dem Satz  "Wir erleben weltweit eine Zeit der Fluchtbewegungen" und beendet es mit dem Wunsch "Möge der Roman etwas bewirken in den Zeiten zunehmender Entmenschlichung“. 

Dazwischen dann liest man Reflektionen der Gegenwart und der Vergangenheit und wird neugierig auf diesen Roman, dessen Titel zwar ein Frauenname ist, der sich inhaltlich aber mit der Lebensgeschichte des assimilierten Juden und Cellisten Aaron Stern befasst.

Dessen Vater betreibt in der 2. Generation einen Musikhandel.  Aaron berichtet zunächst von seinen Eindrücken in der NS-Zeit als Schüler nach dem Inkrafttreten der Nürnberger Gesetze und wie damals der Hass seiner Mitschüler und einiger Lehrer auf Juden und damit auch auf ihn wuchs. Er erzählt wie er allmählich immer mehr ausgegrenzt wurde, nach der Obertertia das Gymnasium verließ und bei seinem Vater eine Lehre als Musikalienhändler begann. 

Aaron berichtet von den Schikanen der Nazis in den Jahren vor dem 2. Weltkrieg, auch wie sein Vater misshandelt wurde und eine schwere Herzattacke erlitt, woraufhin Aaron 1937 im Alter von 20 Jahren den Musikhandel vollständig übernahm. Zu diesem Zeitpunkt lernt er Leah kennen. Sie ist drei Jahre älter als er.  Die beiden verlieben sich ineinander Als Leah schwanger wird, beschließen sie Deutschland zu verlassen.  Ihr Vorhaben führt sie nach großen Schwierigkeiten bis an die Küste Kubas. Die zu früh geborene, schwache Tochter haben sie schweren Herzens in einer deutschen Familie zurückgelassen. Eine falsche Geburtsurkunde soll die kleine Alma dort schützen. 

Aaron schreibt von den traurigen Begebenheiten und den Ängsten der Menschen auf dem Schiff, nicht zuletzt als man den Passagieren dort die Einreise verweigert. Man nimmt Anteil an der leidvollen  Odyssee von Aaron und Leah,  die im Konzentrationslager Auschwitz endet. 

Aaron überlebt die Zeit dort und auch  jene in Bergen-Belsen, dem Ort des Grauens, dessen Leichenberge zu Kriegsende die Welt erschütterten.  Auch darüber schreibt Aaron, für den die KZ-Tortur mit Verlust von allem, was ihm etwas bedeutet hat, endet. Aaron ist  nun Mitte 20. 

Nach 1945 erlebt Aaron weiterhin viel Ungutes. Hierzu gehört nicht zuletzt auch das Verhalten der Deutschen, die von all der Entmenschlichung nichts gewusst haben wollten.  Jetzt sucht der Vater seine Tochter, hört von ihrem Tod in der Ostsee,  ist untröstlich, doch dann kommt alles anders…. 

Musik  ist das versöhnende Element und  das Sinnstiftende, das über sinnentleerte Zeiten trägt.

Der Roman ist sehr flüssig und packend geschrieben. Dabei sind Figuren glaubhaft charakterisiert und der historische Hintergrund schonungslos ausgelotet. Man fühlt den Schmerz Aarons, begreift jene KZ-Häftlinge, die aufgrund ihrer Hoffnungslosigkeit Suizid begingen und stellt sich erneut die Frage, wie diese perverse  Entmenschlichung damals überhaupt möglich werden konnte und ob die Gefahr besteht, dass  ein solches Unrecht sich in Europa erneut zutragen könnte?

 "Alma" ist ein Roman, den ich allen wärmstens ans  Herz lege. Er ist ein wichtiges Dokument, das wachrüttelt und uns bewusst macht, in welchen Zeiten wir leben aber auch wogegen wir uns aussprechen müssen:  Es ist der wachsende Rechtsradikalismus, der ohne Zweifel erneut ins Verhängnis führen kann. 

Verschenken Sie das Buch möglichst oft. Es schafft Bewusstsein. Dies  ist derzeit bitter  notwendig.


Sehr empfehlenswert 

Helga König

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Rezension: Der jüngere Bruder- Uwe Prell- C.M. Brendle Verlag

Uwe Prell arbeitet als freiberuflicher Dramaturg, Redakteur und Autor. Neben seiner beruflichen und literarischen Tätigkeit wurde er im Fach Politikwissenschaften promoviert und in Neuerer Geschichte habilitiert. 

Sein Roman "Der jüngere Bruder" spielt in den  Jahren 1967 und 1977 in der Bundesrepublik Deutschland und befasst sich mit einer möglichen Ursache, die junge Menschen zu vermeintlichen Mittätern oder Sympathisanten der Roten Armee Fraktion (RAF) gemacht haben könnte: Angepasstheit an überkommene Verhaltensmuster. 

Im Frühling 1977 wurde in Karlsruhe vom "Kommando Ulrike Meinhof" Generalbundesanwalt Siegfried Buback, sein Fahrer und der Leiter der Fahrbereitschaft der Bundesanwaltschaft von einem Motorrad aus in ihrem Auto erschossen. Allerdings wurde der Täter bis heute nicht zweifelsfrei identifiziert. 

Volker Löffler, der Protagonist in Uwe Prells Roman, ist der Freund des jüngeren Bruders eines möglichen Beteiligten des Mordanschlags. Wegen der vermuteten Nähe zu Edgar wird er von der Polizei verhört.

Wie schon erwähnt, spielt der Roman auf zwei Zeitebenen. Diese wechseln immerfort und machen deutlich, dass die späteren Ereignisse ohne die früheren so hätten nicht stattfinden können, sie eine Folge von unreflektiertem, vorangegangenem Handeln darstellen.

Man erlebt Volker und seinen Freund Achim Höger sowie dessen älteren Bruder Edgar im Jahre 1967. Volker und Achim sind noch halbe Kinder, aber in ihrer Freizeit bereits der "bündischen Jugend" angeschlossen. Dort ist  auch der ältere Bruder als Scout aktiv. 

Wissen sollte man, dass die bündische Jugend eine Jugendbewegung  ist, die schon in der Weimarer Republik entstand und einst das Menschenbild eines Mannes als Ritter pflegte, der sich freiwillig der Disziplin und Selbstdisziplin unterordnet und im Dienst seines Bundes und dessen Zielen steht. Die Bündischen waren offenbar bestrebt, Gruppen zu bilden, die den Charakter eines Lebensbundes hatten, das heißt, Treue und ein Füreinander-Einstehen bis ans Lebensende waren selbstverständlich.

In der NS-Zeit wurden die Bündischen verboten, weil sie in direkter Konkurrenz zu der Hitler-Jugend standen. Wie man Wikipedia entnehmen kann, warfen Ende des Dritten Reichs Kritiker der Bündischen Jugend vor, "Steigbügelhalter des Nationalsozialismus gewesen zu sein, indem sie ähnliches Gedankengut wie "Führen und Folgen", "soldatische Tugenden" oder Patriotismus transportierte." 

Unklar ist offenbar, ob die bündische Jugend heute noch fortbesteht. In Prells Roman tut sie es. Hier erlebt man dieses "Führen und Folgen" innerhalb der von ihm beschriebenen bündischen Gruppe und sieht wie die Gruppenmitglieder besagte soldatische Tugenden, sprich Kameradschaft, Entschlussfreude, Standfestigkeit, Tapferkeit und Durchhaltevermögen erlernen. Das, was in der Gruppe geschieht, will so gar nicht in die Zeit passen, in der man in der damaligen Studentenbewegung eine freie Erziehung propagierte und "Love and Peace" ein zentrales Lebensmotto vieler junger Menschen war. Offenbar lebt das Bündische von Generation zu Generation in der fokussierten Region fort  - ungeachtet des Zeitgeistes- , ganz ähnlich wie bestimmte Verhaltensmuster in  Burschenschaften. 

Nach der Lektüre des Buches wird klar, dass es diese alten Verhaltensmuster sind, die die drei Jungs zu einer verschwiegenen Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißte, die vielleicht ungewollt politisch agierte, ohne möglicherweise tatsächlich politisch motiviert zu sein. Sang man 1932 bei den Bündischen  noch "Wenn die bunten Fahnen wehen", sang man 1970 stattdessen "Let it be", doch man passte das Gruppenverhalten nicht dem veränderten Zeitgeist an und lebte letztlich auch die immer gleichen Konflikte aus.

Die Ermordung Siegfried Bubacks durch Mitglieder der Roten Armee Fraktion war der Auftakt des Terrorjahres 1977, der im sogenannten "Deutschen Herbst" gipfelte. Buback einst Mitglied der NSDAP, wurde dennoch 1953 Staatsanwalt und 1974 Generalbundesanwalt. Bereits vor seiner Amtszeit war er für die Fahndungen nach führenden RAF-Terroristen der ersten Generation verantwortlich. Das machte ihn zum idealen Feindbild der Terroristen der II. Generation, die ungleich gewalttätiger den Kampf gegen das Establishment fortsetzten, weil  sie  von Rachegedanken durchdrungen, völlig emotional reagierten. 

Edgar, Achim oder auch Volker - keine Täter-  haben in der bündischen Jugend Verhaltensmuster gelernt, die sie zu geeigneten Handlagern militanter Gruppierungen machte, ohne politisch motiviert zu sein. Willige Helfer gab es auch in der NS-Zeit zur Genüge. Diese wurden damals in der Hitlerjugend herangezogen, in der ähnliche Ideale wie in der bündischen Jugend hochgehalten wurden. 

Sowohl Volker als auch Edgar trauern nicht erkennbar um den Freund und Bruder Achim, der bei einem Motoradunfall ums Leben kommt. Das ist erschreckend. Diese Unfähigkeit zu trauern haben die beiden mit der Nazigeneration gemeinsam und dies hängt wohl in erster Linie mit einer falsch verstandenen Selbstdisziplinierung zusammen, die sie von ihrem Selbst und damit auch von ihrer inneren Stimme getrennt hat.

Uwe Prell transportiert in seinem Werk den Zeitgeist jener Tage, der sehr widersprüchlich und nicht auf Konsens ausgerichtet war, weil Sprachlosigkeit einen Dialog nicht nur zwischen den Generationen nahezu unmöglich machte, sondern auch weil alte Strukturen überall verdeckt, das Liberale hemmend, fortlebten.

Was fehlt, ist eine wirkliche Nähe zum Du. Sie kann nicht durch Kameradschaft ersetzt werden. Das zeigt sich auch im Umgang mit Lydia, die von den drei jungen Männern mehr als Trophäe, denn als Mensch, der geliebt werden möchte, gesehen wird.

Sehr empfehlenswert 

Helga König

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Rezension: Die Spionin- Paulo Coelho- Roman. Diogenes

Der Autor dieses Romans ist der Brasilianer #Paulo_Coehlo. Seine Bücher wurden in 81 Sprachen der Welt übersetzt und haben bislang eine Auflage von über 210 Millionen Exemplaren erreicht. Der Romancier hat zudem weltweit die meisten Follower in den sozialen Medien.  

Die Protagonistin des Romans "Die Spionin" ist die niederländische Tänzerin Margaretha Geertruida Zelle (1876-1917), die einst den Künstlernamen Mata Hari trug. Das Leben und Schicksal dieser Tänzerin wurde 1931 bereits erstmals verfilmt. Seither verbindet man Mata Haris Aussehen mit der Schönheit von Greta Garbo, die im damaligen Film die Hauptrolle spielte. Blättert man zunächst in Coehlos Roman, entdeckt man diverse Abbildungen der Künstlerin, die fast ein wenig enttäuschen, weil das geistige Auge diese Fotos ungewollt mit Filmbildern der  göttlichen Garbo vergleicht. 

Was ließ Margaretha Geertruida Zelle, die auf ihrem Hochzeitsfoto als 18 jährige neben ihrem 21 Jahre älteren, glatzköpfigen Ehemann ungemein bieder erscheint, so über sich hinauswachsen, dass halb Europa ihr  später zu Füßen lag? Coehlo beantwortet diese Frage, indem er seine Protagonisten selbst zu Wort kommen und erzählen lässt.

Als Schülerin wird Margaretha vom Direktor der Schule, die sie besuchte, vergewaltigt und begreift den Offizier, der um ihre Hand anhält, zunächst als ihre Rettung. Mit ihm geht sie nach Niederländisch-Ostindien und muss dort ihren krankhaft eifersüchtigen Mann ertragen, der sie sexuell demütigt.

Sie lernt auf Java Ausdruckstänze kennen, die sie später in Europa berühmt machen werden, trennt sich von ihrem Mann und wird Tänzerin für klassisch-orientalischen Tanz. Jetzt lebt sie von Männern, die Gunst und Juwelen als Gegenleistung für Zärtlichkeit und Lust akzeptieren. Doch da hat sie den Zugang zu ihrem Körper schon lange verloren und setzt ihn nur noch gewinnbringend ein. 

Coehlo lässt die Tänzerin sagen: "Fast alle Männer, die ich kennengelernt habe, schenken mir Schmuck, gaben mir einen Platz in der Gesellschaft und nie habe ich bereut, sie kennengelernt zu haben- mit einer Ausnahme: der Direktor meiner Schule in Leiden, der mich vergewaltigte, als ich sechszehn war." Dieser Satz kann als Schlüsselsatz gedeutet werden, um die Persönlichkeit dieser durch die Vergewaltigung entseelten Frau zu begreifen.

Man erlebt Mata Haris Verwandlung hin zur "weiblichsten aller Frauen, deren Körper imstande war, unfassbare Tragödien darzustellen", wie die Presse damals schrieb und lernt ihren Freiheitsdrang zu verstehen, den sie im Tanz auslebte. 

Sie habe nicht Liebe, sondern Freiheit gesucht, weil sie gewusst habe, dass die Liebe komme und gehe, sagt sie nicht grundlos.

Irgendwann ist man Mata Hari in Paris, wo sie ihre Glanzzeiten erlebt, überdrüssig. Sie begibt sich nach Berlin, um dort ihr Glück erneut zu versuchen und wird später angeblich Doppelagentin, um ihr Leben in schwierigen Zeiten finanzieren zu können. 

Nach ihrer Verhaftung bestreitet sie bis zum Schluss die Agententätigkeit, wird aber des Hochverrats angeklagt und schließlich hingerichtet. 

Coehlo zeichnet das Bild einer tapferen Frau, die von sich selbst sagt, dass sie im falschen Jahrhundert geboren worden sei, sie letztlich Opfer einer Justiz war, die sie dafür abstrafte, dass sie frei sein wollte, dass sie mit Männern Sexualbeziehungen eingegangen war, deren Ruf um jeden Preis gewahrt werden musste. Das war nur möglich war, wenn sie von der Bildfläche verschwand. 

Mata Hari wurde, wie so viele Frauen vor und nach ihr, Opfer von Intrigen. Sie war eine Männer-Fantasie und wurde von Männern  genau dafür hingerichtet.

Ob Mata Hari oder Gräfin von Reventlow oder wie sie alle hießen, keine konnte ungestraft frei, vor allem sexuell frei sein in jenen Tagen als Doppelmoral angesagtes Programm war. Was ihnen blieb war, die Konsequenzen für ihren Freiheitsdrang, ohne zu jammern, zu akzeptieren, um auf diese Weise ihren Selbstwert nicht zu verlieren.

Der Text  ist flüssig geschrieben, lässt Poesie bei allem Realismus nicht vermissen und eignet sich in einer Nacht "verschlungen" zu werden.   

Empfehlenswert 

Helga König

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