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Rezension: Alltagsfluchten- Geschichten und Atmosphären aus der Gegenwart- #Raimund_Schöll- Wiesenburg

Der Autor dieses Buches, das wunderbare Lyrik- und Prosatexte enthält, ist der gebürtige Münchner Raimund Schöll. Als Soziologe coacht er Führungskräfte, begleitet Organisationen in Veränderungsprozessen und berät Einzelpersonen und Paare in schwierigen Situationen. Dabei ist ihm Schreiben zu seiner zweiten Passion geworden. 

Neugierig auf die Texte hat mich das Cover gemacht. Es erinnert an Werke von Réne Magritte aber auch an Arbeiten von Salvadore Dali. Wer ein solches Cover gestalten lässt, möchte damit vermutlich eine Botschaft vermitteln. Auf diese Botschaft war ich gespannt.

Anstelle eines Vorwortes hat man Gelegenheit, Überlegungen zu Sisyphos von Albert Camus zu lesen, der diesen scheinbar absurd handelnden Menschen als glücklich bezeichnet hat und auch begründet, worin die verborgende Freude dieses Mannes bestand. 

Die rund 140 Texte Raimund Schölls sind in zwei Abschnitte untergliedert. Diese lauten: 

I. Rätselhafthaftes & Schicksalhaftes 

II. Zauberhaftes & Bedenkenswertes 

und beginnen jeweils mit vier Sentenzen. Die Verfasser dieser Zitate sind Ludwig Wittgenstein, Paul Valéry, Eugène Ionesco, Matthias Ohler, Albert Camus, Max Frisch, André Breton und Bruno Latour. 

Diese Personen, aber auch deren Gedanken zeugen vom geistigen Anspruch Raimund Schölls. Zu erfahren, ob er diesem mit seinen Texten gerecht wird, schafft weitere Neugierde und das erste Durchblättern des Buches schenkt dann das Aha-Erlebnis, weil man beim Lesen nicht chronologisch  vorgehen muss, sondern selbst die Reihenfolge entscheiden kann. Das beglückt natürlich. 

Lesen ist immer auch eine Zeitfrage. Worauf lässt man sich an stressigen Tagen ein? Auf längere oder kürzere Texte? Im Buch wird beides geboten und es werden auch Stimmungslagen berücksichtigt. Das Eintauchen in Lyrik bedarf anderer Gefühlsregungen als das Beschäftigen mit Prosa. Kurzum: Man fühlt sich als Leser verstanden und empfindet von daher Freude und Dankbarkeit, noch bevor man sich auf die Texte einlässt. 

Weil ich zunächst wissen wollte, ob der Autor wirklichen Sinn für Poesie hat, las ich zunächst dessen Gedichte und war mehr als nur angetan von der Qualität der Verse. Damit Sie eine Vorstellung davon erhalten, möchte ich eines der Gedichte hier wiedergeben. 

Ein Nachmittag auf Formentera 

Gischtgekrönt spülen 
die grünen Meereswellen 
Spuren aus dem Sand 
Eine Armada 
Grauer stoischer Wolken 
Begleitet ihr Lied 
Das ist der Süden- 
Launisch, divenhaft, verspielt
Feiert er sich selbst. 

Dies ist eine wahrlich gelungene lyrische Miniatur, ein Hohelied auf den Süden, das man immer wieder gerne liest, weil der Minimalismus in Gedichtform die Essenz dessen offenbart, was den Süden ausmacht.

Raimund Schöll nutzt Stilrichtungen der Kunst stilistisch gekonnt für seine Texte. Dabei ist er im Minimalismus ebenso zu Hause wie im Surrealismus und im Realismus. 

Realismus findet sich beispielsweise in der Sentenz, die den Titel - Sie Du Sie- trägt: 

"Für manche bist Du selbst dann ein Sie, wenn du ein Du verspürst. Naturgemäß gilt dies auch umgekehrt."

Doch kommen wir nun zu Raimund Schölls Geschichten, die sich zwischen Minimalistischem, Surrealem und Realem bewegend, als Lesestoff für gedankliche Alltagsfluchten bestens eignen. Im Grunde sollte man jeden Tag nur einen dieser Texte lesen und mit diesem dann ausgiebig gedanklich spazieren gehen. Das nennt man dann wohl Meditation.

Wer schon einmal in Prag war und dazu noch Kafka mag, sollte vielleicht mit dem Text "Prag" beginnen. Diese Geschichte ist sehr dicht geschrieben, dazu minimalistisch und surreal zugleich angelegt. Der Autor skizziert mit einigen Sätzen seine spontanen Eindrücke. Am Anfang fällt noch nichts Surreales oder irgendwie Absurdes ins Auge, obschon es Schöll wenig später dem Leser vor die Nase hält. Zuvor aber liest man folgende Sätze: "Plötzlich ein Gedanke: Lebte nicht Franz Kafka in Prag? Und- kafkaesk. Ach ja, das war es doch!" Raimund Schöll gelingt es in der Folge, wiederum mit wenigen Federstrichen,  die Stadt trotz der Geräuschkulisse, durch die Erwähnung des sensiblen Poeten dem Jetzt so zu entfremden, dass sie am Ende durch die Touristen mit ihren digitalen Klickautomaten kafkaesk erscheint. Das hat der Autor sehr hintersinnig entwickelt.

Wenige Seiten danach hat man die Gelegenheit, einen Essay über die "Sehnsucht" zu lesen. Dieser Essay hat mir besonders gut gefallen. Für den Autor ist Sehnsucht möglicherweise das unbeschreiblichste Gefühl, das wir Menschen entwickeln. So reflektiert er nicht grundlos, wonach wir sehnsüchtig sein können. Interessanterweise benennt er zum Schluss seiner Aufzählung die Sehnsucht nach nicht alltäglichen Gedanken. Eine solche Sehnsucht kennen vermutlich vorrangig Kreative. Es sei die Sehnsucht, die uns zu einem anderen Menschen mache, vielleicht weil sie letztlich Andacht oder auch Meditation sei, so Schöll. Doch ich möchte nicht zu viel verraten. Dieser Text könnte auch von Plutarch stammen, einem Plutarch allerdings mit der Poesie eines Franzosen, denn der Essay ist sehr philosophisch angelegt,  wurde jedoch mit der Leichtfüßigkeit eines Rokoko- Intellektuellen verfasst. 

Dann ist da die Geschichte, deren Titel "Aus" heißt. Es ist eine Geschichte, die sich als verfremdete, traurige Liebesgeschichte entpuppt, ganz beiläufig erzählt. Beeindruckend. 

Die Stoiker scheinen den Verfasser offenbar zu amüsieren, aufgrund ihrer mangelnden Lebendigkeit. Dies macht seine Geschichte "Der Stoiker" deutlich. Lichtgestalten sind sie für Schöll jedenfalls nicht gerade, das entnimmt man übrigens auch meinem ausgewählten Gedicht. Dort spricht der Dichter von "grauen, stoischen Wolken".

Leider ist es unmöglich im Rahmen der Rezension auf all die wunderbaren Texte einzugehen. Von daher freue ich mich schon jetzt auf das Interview mit dem Raimund Schöll.

Sehr angetan bin ich  von der Geschichte "Morgengezwitscher", in der der Autor verdeutlicht, dass sich letztlich alles, wenn auch vielleicht abgewandelt, wiederholt. Sisyphos lässt grüßen.

Eine der Geschichten trägt den Namen "Menschliche Größe". Dieser Essay korrespondiert mit den das Buch einleitenden Überlegungen von Albert Camus. Bezugnehmend auf Sisyphos fragt Raimund Schöll nach der menschlichen Größe, konkret, worin diese eigentlich besteht. Dieser Text ist meines Erachtens der Schlüsseltext zum Buch. Hier reflektiert und bejaht Schöll die Meinung Camus, dass man sich Sisyphus als glücklichen Menschen vorstellen möge und begründet dies auch. Ich zitiere nachstehend aus dem Text: "Den Stein zu rollen, ihn immer wieder neu ins Rollen zu bringen, ist das Leben und etwas anderes bleibt uns nicht übrig. Menschliche Größe könnte also darin bestehen, kompromisslos ja zum Leben und seinen täglichen Herausforderungen zu sagen und das Rollen des Steins als tägliche Passion zu verstehen. Dem Absurden, Tragischen und Grotesken, das dabei täglich am Wegesrand lauert, ins Auge zu sehen. Und dass dabei auch Zauberhaftes geschieht, wer mag das ernsthaft leugnen?!"

Der Verlag fasst zusammen "Eine kaleidoskopische Reise durch die Lebensgefühle und Atmosphären unserer Zeit". Genau darum geht es. Raimund Schöll zeigt das Absurde, Tragische, Groteske aber auch das Zauberhafte, das täglich geschieht und verfremdet es zumeist ein wenig, so dass es fast surreal daherkommt und man  als Leser nicht selten auch ein bisschen träumen kann. 

Dabei ist Lebenskunst für den Autor: "Wenn ein Tag schön war, dafür zu sorgen, dass der darauf folgende Tag auch schön wird. Es jedenfalls zu versuchen." Das klingt zuversichtlich und alles andere als melancholisch. Das klingt nach "Carpe diem". Das klingt nach ungebrochener Lebenslust.

Bei all den Absurditäten, die uns täglich begegnen, ein solches Motto für sich und andere zu entwickeln, lässt auf einen Menschen schließen, der in sich ruht und noch immer Freude empfinden kann, ganz so wie Camus Sisyphus, für den sein Stein zu seinem Lebenselixier wurde.  

Sehr empfehlenswert 

Helga König

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Alltagsfluchten: Geschichten und Atmosphären aus der Gegenwart